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Kapitel 2

ARCHITEKTUR

DAS AUSLOTEN

DES RAUMS

Kapitel 2

ARCHITEKTUR

DAS AUSLOTEN

DES RAUMS

Architekturbilder nehmen im Schaffen Feiningers einen herausragenden Platz ein. Insbesondere die Dörfer und mittelalterlichen Kirchen Thüringens dienen dem Künstler lebenslang als Inspirationsquelle für zahlreiche Werke. 

Wegweisend für Feininger wird sein Parisaufenthalt 1911, bei dem er die Stilrichtung des Kubismus kennenlernt. Die Kubist*innen zerlegen Motive, um gleichzeitig verschiedene Ansichten im Raum sowie die Bewegung von Gegenständen auf der Bildfläche wiederzugeben. Im Kubismus erkennt Feininger eine Möglichkeit, die Abbildhaftigkeit in der Kunst hinter sich zu lassen. In seinen lichtdurchfluteten Architekturdarstellungen geht es dem Künstler nicht nur um die Mehransichtigkeit eines Gegenstandes, sondern um eine konzentrierte Wiedergabe des Charakters, der Aura des jeweiligen Bauwerks. Feininger strebt damit spirituelle Erlebnisse an – so wie im Mittelalter die Menschen staunend vor einer Kathedrale gestanden haben.

Viele Gemälde haben ihren Ausgangspunkt in genauen Beobachtungen seiner Umgebung und Zeichnungen, die der Künstler in der Natur anfertigt. Er selbst bezeichnet diese Arbeitsweise als „Natur-Notizen“. Feininger entwickelt daraus oft erst Jahre später seine monumentalen Bildkompositionen. Er tastet sich allmählich an das Motiv heran, formt es gedanklich und hält es dann malerisch fest.

Zirchow VII, 1918
Zirchow VII, 1918

Feininger entdeckt die kleine Kirche von Zirchow mit ihrem gedrungenen Baukörper und einem kurzen, spitzen Turmhelm während eines seiner Sommeraufenthalte in Heringsdorf auf der Insel Usedom. 1918 inszeniert er sie als ein monumentales Bauwerk in geheimnisvollem Licht und tiefen Farben. Der Baukörper der Kirche besteht aus sich überlagernden, rhythmisch angeordneten Flächen. Durch geometrische Formen in Verbindung mit Farbabstufungen wird eine plastische Wirkung erzeugt. Die Anordnung der Flächen sowie die Farbnuancen, die unterschiedlichen Blautöne des Himmels, lassen den Eindruck entstehen, dass hier die Bewegung des Lichts im Laufe eines Tages festgehalten wird. So gelingt es Feininger, einen Zeitverlauf in einem statischen Bild darzustellen.  

„Je weiter ich kam, desto schöner waren die Dörfer.“
LYONEL
FEININGER–1913
„Je weiter ich kam, desto schöner waren die Dörfer.“
LYONEL FEININGER –1913

Feininger wird 1919 als erster Meister an das vom deutschen Architekten Walter Gropius (1883–1969) neu gegründete Staatliche Bauhaus in Weimar berufen und zieht mit seiner Familie dahin. Ab 1921 leitet er dort als künstlerischer Direktor die druckgrafische Werkstatt. Selbst künstlerisch tätig, schreibt sich Julia Feininger am Bauhaus ein und studiert zunächst vor allem in der Klasse ihres Mannes.

Obwohl das Bauhaus als Institution von 1919 bis 1933 nur 14 Jahre existiert, wird es zur bedeutendsten Schule für Architektur, Design und Kunst im 20. Jahrhundert. Als solche hat sie den Anspruch, nicht nur Gestaltung von Grund auf neu und zeitgemäß zu denken, sondern auch eine wichtige gesellschaftsverändernde Kraft zu werden.

Kathedrale (großer Stock), 1919
Titelblatt von Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar

Die mittelalterliche Kirche ragt hoch auf. Der Fassadenaufriss ist durch die spitzen Doppeltürme und den Hauptturm über dem Mittelschiff geprägt. Die schwarze Druckfarbe unterstreicht die kristalline Wirkung des Bauwerks und seiner Umgebung. Dieser Holzschnitt von 1919 dient als Titelblatt für das Gründungsmanifest des Bauhauses, verfasst von Walter Gropius. Die von Lichtbahnen umgebene Kirche, deren Türme von drei Sternen bekrönt sind, steht symbolisch für das gemeinschaftliche Wirken aller Künste.

In seinem Manifest propagiert Gropius die Idee vom „neuen Bau der Zukunft“, der die zuvor an den Akademien getrennten Kunstgattungen – Architektur, Plastik und Malerei – vereinen soll. Für das Bauhaus-Programm spielt die romantisierte Vorstellung einer mittelalterlichen Bauhütte, in der Handwerker*innen eine Arbeitsgemeinschaft bilden, um ein gemeinsames Werk zu errichten, eine wichtige symbolische Rolle. Die Idee vom Bauhaus als einer Art „Bauhütte“ soll die Verbindung von Kunst und Handwerk sowie die Vereinigung aller Künste zu einem Gesamtkunstwerk versinnbildlichen.

Kathedrale (großer Stock), 1919
Titelblatt von Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar

Die mittelalterliche Kirche ragt hoch auf. Der Fassadenaufriss ist durch die spitzen Doppeltürme und den Hauptturm über dem Mittelschiff geprägt. Die schwarze Druckfarbe unterstreicht die kristalline Wirkung des Bauwerks und seiner Umgebung. Dieser Holzschnitt von 1919 dient als Titelblatt für das Gründungsmanifest des Bauhauses, verfasst von Walter Gropius. Die von Lichtbahnen umgebene Kirche, deren Türme von drei Sternen bekrönt sind, steht symbolisch für das gemeinschaftliche Wirken aller Künste.

In seinem Manifest propagiert Gropius die Idee vom „neuen Bau der Zukunft“, der die zuvor an den Akademien getrennten Kunstgattungen – Architektur, Plastik und Malerei – vereinen soll. Für das Bauhaus-Programm spielt die romantisierte Vorstellung einer mittelalterlichen Bauhütte, in der Handwerker*innen eine Arbeitsgemeinschaft bilden, um ein gemeinsames Werk zu errichten, eine wichtige symbolische Rolle. Die Idee vom Bauhaus als einer Art „Bauhütte“ soll die Verbindung von Kunst und Handwerk sowie die Vereinigung aller Künste zu einem Gesamtkunstwerk versinnbildlichen.

Die Meister des Bauhauses auf dem Dach des Bauhaus-Gebäudes in Dessau (von links nach rechts): Josef Albers, Hinnerk Scheper, Georg Muche, László Moholoy-Nagy, Herbert Bayer, Joost Schmidt, Walter Gropius, Marcel Breuer, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger, Gunta Stölzl und Oskar Schlemmer, 1926, Foto von Walter Gropius per Selbstauslöser

_ Innovative Lehre: Bauhaus

Walter Gropius, Schema zum Aufbau der Lehre am Bauhaus, 1923

Der Unterricht nach innovativen Konzepten hat eine zentrale Bedeutung für das Bauhaus. Das von Walter Gropius entwickelte Schema versinnbildlicht den ideellen Aufbau der Lehre, wobei der „Bau“ den Mittelpunkt aller Tätigkeiten markiert. Nur die Begabtesten sollen zur Baulehre zugelassen werden. Zu Beginn erhalten alle Studierenden im Rahmen der sogenannten Vorlehre eine Grundausbildung. Diese sieht ein zweckfreies Experimentieren mit Farbe, Form und Material vor. Anstelle des für Kunstakademien üblichen Kopierens von Vorlagen, schulen die Studierenden in der Gestaltung so ihre subjektive Empfindung. Auf die Vorlehre folgen bei persönlicher Eignung die praktische Arbeit in den Werkstätten (Werklehre) sowie die Formlehre. Diese Struktur der Ausbildung hat keine Vorläufer und wird von Gropius komplett neu erarbeitet. Dabei gelingt es ihm, renommierte Künstler wie beispielsweise Paul Klee und Wassily Kandinsky als Lehrende zu gewinnen. Diese sollen für die innovativen Impulse im Bereich der Werkstätten sorgen.

_ Innovative Lehre: Bauhaus

Walter Gropius, Schema zum Aufbau der Lehre am Bauhaus, 1923

Der Unterricht nach innovativen Konzepten hat eine zentrale Bedeutung für das Bauhaus. Das von Walter Gropius entwickelte Schema versinnbildlicht den ideellen Aufbau der Lehre, wobei der „Bau“ den Mittelpunkt aller Tätigkeiten markiert. Nur die Begabtesten sollen zur Baulehre zugelassen werden. Zu Beginn erhalten alle Studierenden im Rahmen der sogenannten Vorlehre eine Grundausbildung. Diese sieht ein zweckfreies Experimentieren mit Farbe, Form und Material vor. Anstelle des für Kunstakademien üblichen Kopierens von Vorlagen, schulen die Studierenden in der Gestaltung so ihre subjektive Empfindung. Auf die Vorlehre folgen bei persönlicher Eignung die praktische Arbeit in den Werkstätten (Werklehre) sowie die Formlehre. Diese Struktur der Ausbildung hat keine Vorläufer und wird von Gropius komplett neu erarbeitet. Dabei gelingt es ihm, renommierte Künstler wie beispielsweise Paul Klee und Wassily Kandinsky als Lehrende zu gewinnen. Diese sollen für die innovativen Impulse im Bereich der Werkstätten sorgen.

Feininger ist lebenslang der festen Überzeugung, dass Musik und Malerei zusammengehören. Die Musik begleitet ihn bereits seit der Kindheit. Seine Mutter, die Sängerin und Pianistin Elizabeth, geborene Lutz, und sein Vater, der bekannte Geiger und Komponist Karl Feininger, füllen ihr Haus mit klassischer Musik. Mit neun Jahren beginnt Feininger, bei seinem Vater Geigenunterricht zu nehmen. Mit 16 Jahren kommt er nach Deutschland, um am Königlichen Konservatorium der Musik zu Leipzig Violine zu studieren. Obwohl er sich letztendlich für die bildende Kunst entscheidet, bleibt die Musik eine wichtige Kraft in seinem künstlerischen Schaffen.

„Ohne die Musik könnte ich mich überhaupt nicht als Maler sehen.“
LYONEL FEININGER –1944

In Weimar lernt Feininger den Komponisten Hans Brönner kennen, der seine Bewunderung für die Fugen von Johann Sebastian Bach (1685–1750) teilt. Die Bachs Musik charakterisierenden Eigenschaften Struktur, Ordnung, Symmetrie, Strenge und Logik faszinieren Feininger ebenso wie der Kontrapunkt – ein musikalisches Prinzip, bei dem einer melodischen Abfolge eine weitere hinzugefügt wird. Beide Melodien haben dabei einen gegensätzlichen Verlauf, der nach strikten Regeln organisiert ist, sodass am Ende ein harmonischer Klang entsteht. Feininger selbst vergleicht seine Kunst mit der „Synthese der Fuge“, in der Harmonie und Dissonanz mit strengen Formen, Rhythmik sowie versetzten und übereinandergelegten Motiven koexistieren.

Feininger vergleicht seine Kunst mit der „Synthese der Fuge“.

Harmonie und Dissonanz koexistieren in seinen werken mit strengen Formen, Rhythmik und übereinandergelegten Motiven.

Der Künstler versucht sich sogar selbst im Komponieren: 1921 entsteht seine erste Fuge. Bis 1928 folgen 15 weitere. Obwohl einige dieser Stücke aufgeführt werden, wird nur die Fuge „Nr. VI“ zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Die Kritik lobt die Kraft von Feiningers Fugen. Feininger selbst ist jedoch von der öffentlichen Präsentation seiner Musik oft enttäuscht: Der Stil ihrer Ausführung erscheint ihm zu modern.

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„Fuge I“ (ausschnitt)

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„Fuge I“ (ausschnitt)

Feininger betrachtet die Technisierung der Künste sowie die Fotografie lange kritisch. Ende der 1920er-Jahre wendet er sich jedoch diesem Medium zu. Entscheidend dafür war nicht zuletzt die Tatsache, dass seine drei Söhne Andreas, Laurence und T. Lux zu dieser Zeit intensiv fotografieren. Feininger versteht die Fotografie als private Angelegenheit. Ohne Absicht, verkäufliche Resultate zu produzieren, gelingt es ihm, einen ganz eigenen fotografischen Stil zu entwickeln.

Sowohl in der Fotografie als auch in der Malerei greift der Künstler immer wieder ähnliche Motive auf. Dabei setzt er sich einerseits mit spezifischen Möglichkeiten des jeweiligen Mediums auseinander. Andererseits verfolgt er in der Fotografie ähnliche Ziele wie in all seinen Arbeiten: die Darstellung des Lichts, das Erschaffen rhythmischer Kompositionen und die Konzentration auf das Wesentliche.

Bauhaus-Gebäude Dessau, Nachtaufnahme von Nordost, 22. März 1929

Mit der Übersiedelung des Bauhauses nach Dessau 1925 verlässt Feininger Weimar und bezieht ein Jahr später mit seiner Familie eines der von Gropius für die Bauhaus-Meister errichteten Häuser. Das moderne Bauhaus-Gebäude dient oft als Kulisse für Aufnahmen des regen Schullebens. Nicht so bei Feininger: Er fotografiert vermutlich als Einziger die Schule mitten in der Nacht als stillen und menschenleeren Ort. Die atmosphärische Nachtaufnahme verwandelt die vertraute Umgebung in eine fremde Welt. Auch Feiningers Vorliebe für Hell-Dunkel-Kontraste sowie Schatten- und Formspiele kommt hier zum Ausdruck.

Beleuchtete Häuserzeile II, 1932

Der dunkle rechteckige Wohnblock in diesem wahrscheinlich nach einer Fotografie komponierten Nachtbild ist von beleuchteten Fenstern in abgestuftem Gelb durchbrochen. Das Spiel mit Hell und Dunkel innerhalb der Gebäudefassade des sonst unscheinbaren Wohnblocks weckt das Interesse des Künstlers während eines seiner abendlichen Streifzüge. Die Konturen des Gebäudes sowie die Umrisse der einzelnen Fenster erscheinen auf dem Gemälde etwas „verwischt“, als ob man beim schnellen Vorbeifahren auf die Szenerie blicken würde.

Bauhaus-Gebäude Dessau, Nachtaufnahme von Nordost, 22. März 1929

Mit der Übersiedelung des Bauhauses nach Dessau 1925 verlässt Feininger Weimar und bezieht ein Jahr später mit seiner Familie eines der von Gropius für die Bauhaus-Meister errichteten Häuser. Das moderne Bauhaus-Gebäude dient oft als Kulisse für Aufnahmen des regen Schullebens. Nicht so bei Feininger: Er fotografiert vermutlich als Einziger die Schule mitten in der Nacht als stillen und menschenleeren Ort. Die atmosphärische Nachtaufnahme verwandelt die vertraute Umgebung in eine fremde Welt. Auch Feiningers Vorliebe für Hell-Dunkel-Kontraste sowie Schatten- und Formspiele kommt hier zum Ausdruck.

Beleuchtete Häuserzeile II, 1932

Der dunkle rechteckige Wohnblock in diesem wahrscheinlich nach einer Fotografie komponierten Nachtbild ist von beleuchteten Fenstern in abgestuftem Gelb durchbrochen. Das Spiel mit Hell und Dunkel innerhalb der Gebäudefassade des sonst unscheinbaren Wohnblocks weckt das Interesse des Künstlers während eines seiner abendlichen Streifzüge. Die Konturen des Gebäudes sowie die Umrisse der einzelnen Fenster erscheinen auf dem Gemälde etwas „verwischt“, als ob man beim schnellen Vorbeifahren auf die Szenerie blicken würde.

GELMERODA: KLEINE KIRCHE, GOTISCHE KATHEDRALE

Eine bedeutende Werkserie Feiningers zeigt die Kirche im nahe Weimar gelegenen Dorf Gelmeroda (heute ein Ortsteil von Weimar). Erste Skizzen hierzu fertigt der Künstler bereits 1906 an und noch bis kurz vor seinem Tod widmet er sich der Darstellung dieses Bauwerks. 

Die Kirche von Gelmeroda mit ihrem markanten spitzen Turm, der 1830 zu dem in seinem Kern gotischen Baukörper hinzugefügt wurde, thematisiert Feininger in zehn Gemälden, mehr als 25 Zeichnungen und Skizzen, einer Radierung, 14 Holzschnitten und einer Lithografie. All diese Werke spiegeln die Herangehensweise Feiningers wider: Der Natureindruck bleibt für ihn Ausgangspunkt seiner Kunst. Zwischen 1906 und 1919 hält sich Feininger mehrfach in Weimar auf und fertigt direkt vor der Kirche zahlreiche seiner „Natur-Notizen“ an. Mit sicheren, schnellen Strichen fängt der Künstler das Gesehene ein und manchmal entwickelt er seine Zeichnungen erst Jahre später zu monumentalen Bildkompositionen.

Gelmeroda II, 1913

Feininger wählt für seine Darstellung die Ansicht des Bauwerks von Osten: So zeigt es sich dem Auge beim Erreichen des Dorfes. Die schmale Kirche mit ihrer langen dünnen Turmspitze ist hier vor einem kristallin aufgesplitterten Himmel abgebildet. Ihr kompositorisches Gegengewicht findet sie in einer hoch aufragenden Tanne rechts neben ihr. Die in Gelbnuancen gehaltene Darstellung wird durch die dunklen Elemente rhythmisiert. Ähnlich wie der Baum neigt sich der Kirchturm schräg nach rechts und verstärkt auf diese Weise die dynamisch-expressive Komposition des Bildes.

Gelmeroda III, 1913

Eine ganz andere Interpretation des Motivs: Die Kirche ist von der Seite zu sehen. Aus der vertikalen Mittelachse nach links verschoben erhebt sich der Turm. Seine Spitze ragt hoch auf. Das Bild ist in horizontale und vertikale Flächen zerlegt. Die Farbpalette, in einem kühlen Graublau gehalten, unterstreicht den erhabenen Eindruck der Architektur. Die Kirche wird hier nicht mehr mit der Tanne kontrastiert, sondern von Häusern gerahmt. Diese sowie schmale menschliche Figuren vor der Fassade verstärken die vertikale Ausrichtung des Hauptmotivs. Aus einer kleinen Dorfkirche wird hier eine mächtige Kathedrale, die statisch und monumental wirkt.

Gelmeroda, 1920

In diesem in Schwarz gedruckten Holzschnitt setzt der Künstler das Gesehene in abstrahierten Formen um. Der Baukörper der Kirche ist in geometrische Flächen zerlegt, alle Linien scheinen wie mit dem Lineal gezogen zu sein. Die Flächen greifen über die Architektur hinaus und bestimmen die Struktur des gesamten Bildraums. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Architektur und Umgebung ineinander verzahnt sind. Die kleine Dorfkirche wirkt immateriell wie eine kristalline Form inmitten eines Kosmos.

Gelmeroda XIII, 1936

Der Kirchturm, in bräunlich-weißen Tönen gehalten, erhebt sich vor einem blauen Himmel mit Akzenten in Lila. Das leuchtende Fenster im Turm ruft Assoziationen mit einem grünen Auge hervor. Am linken Bildrand ragt angeschnitten ein Baum in das Bild hinein. Die sich überlagernden Flächen der Komposition scheinen nahezu transparent zu sein. Dies deutet auf geistige Klarheit und Spiritualität. Der Künstler stellt somit nicht nur ein Gebäude im Raum dar, sondern greift metaphorisch die Beziehung des Menschen zum Metaphysischen auf. 

Gelmeroda, 1955

Die letzte bekannte Variation der Kirche von Gelmeroda – eine Lithografie – entsteht 1955. Deren Vorlage, eine Federzeichnung, kreiert Feininger ein Jahr zuvor. Der Kirchturm auf diesem geisterhaft wirkenden Bild erhebt sich in filigraner Leichtigkeit. Die aus feinen Linien und diffusen Farbflächen in Grau und Schwarz bestehende Darstellung vermittelt den Eindruck, dass wir dem Künstler beim Denken und Konstruieren seines Motivs zuschauen. Übertragen mag sie mit einer Erinnerung vergleichbar sein, die aus der Vergangenheit hervortretend zwar deutlicher, jedoch nie ganz greifbar wird.

„Es gibt nur eine Kunst – die zeitlose.“
LYONEL
FEININGER–1917
„Es gibt nur eine Kunst – die zeitlose.“
LYONEL
FEININGER–1917

_ rADTOUREN: UNABHÄNGIG uNTERWEGS

Lyonel Feininger, 1926

Das Fahrrad gewinnt seit Ende des 19. Jahrhunderts an Popularität. Die umständlichen Hochräder, die sich durch eine besondere Größe des Vorderrads auszeichnen und nur mittels der direkt auf der Radachse montierten Pedale zu bewegen sind, werden durch die bis heute verbreiteten „Niederräder“ ersetzt. Diese Entwicklung führt dazu, dass das Fahrrad in den 1920er-Jahren zu einem populären Verkehrsmittel avanciert. Für die Künstler*innen der Moderne wird es nicht nur zum Bildmotiv, sondern ebenso zum Fortbewegungsmittel, mit dem sie sich selbstbestimmt und unabhängig in der Natur bewegen können. Auf der Suche nach künstlerischen Anregungen erkundet auch der passionierte Radfahrer Feininger die Gegend auf einem modernen Rennrad. Dieses ermöglicht ihm, den Radius seiner Entdeckungstouren auszudehnen und in kurzer Zeit große Distanzen zu bewältigen. Der Künstler berichtet beispielsweise von einer Tagestour, bei der er „über zwanzig neue Ortschaften passiert“ und im Ganzen 68 Kilometer zurückgelegt habe. Eine beachtliche Distanz, bedenkt man die Beschaffenheit der Straßen und die technische Ausstattung der damaligen Fahrräder.